Die Diagnose ist der Beginn jedes Beratungsprozesses.
Organisationsberater führen Interviews, verteilen Fragebogen und nutzen Frameworks, um zu messen, wie die Organisation ist. Diese Messungen werden dokumentiert, zurückgemeldet und führen standardmäßig zu Maßnahmenpaketen, die durchgeführt werden.
Mediziner und Psychologen führen Untersuchungen durch, machen Tests und werten Proben in Laboren aus. Basierend darauf stellen sie eine Diagnose nach ICD-10 oder DSM 5. Diese Diagnose ist Grundlage der weiteren Behandlung und Therapie.
Dabei ist wichtig zu wissen, welche weitreichenden Konsequenzen die Messungen selbst, für das was man messen möchte haben.
Die Messung schränkt den Lösungsraum ein
Zunächst ist da die alte Manager-Weisheit „If you can’t measure it, you can’t manage it“.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Paul Watzlawik mit der Aussage „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“. Aus der Synthese beider Aussagen folgt das Verhalten vieler Berater und Manager, dass sie vor allem auf das schauen, was sie besonders gut und einfach messen können.
Zusammenhänge die (noch) nicht oder schwieriger erfassbar sind werden ignoriert oder absichtlich ausgeblendet. Besonders auffällig war dieses Muster, als wir bei Timmermann Partners einen CTO für eine App suchten. Je nach Hintergrund war der wichtigste Erfolgsfaktor für die Entwicklung einer App ganz klar das Backend, das Frontend, das Testing, die Dokumentation, oder die Server-Struktur. Nach den Interviews hatten wir (als eigentliche Technik-Laien) eine schöne Liste wichtiger technischer Themen. Wir kannten auch zu jedem Thema einen aussagefähigen Experten. Leider fanden wir keinen CTO.
Die Auswahl des Messinstruments und der Perspektive schränkt stark ein, was überhaupt bearbeitbar wird. Damit wird auch der Lösungsraum vorab begrenzt. Als Berater versuche ich daher, egal in welchem Kontext – darauf zu achten mehrere Messinstrumente, Themen und Frameworks zu kombinieren. Aus wissenschaftlich-psychologischer Sicht ist ein solches Vorgehen Standard und firmiert unter dem Schlagwort Multi-Trait-Multi-Method. Ein Messinstrument ist dabei auch immer meine subjektive Wahrnehmung und Erleben als Mensch.
Die Messung verändert das, was gemessen wird
Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist, dass die Messung einer Variable die Ausprägung der Variable verändern kann. Anders ausgedrückt, sobald ich ein Ding messe, verändert sich dieses Ding mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.
Dieses Phänomen ist bereits in der Atomphysik beobachtbar und beschreibbar. Dort firmiert es unter dem Begriff der quantenmechanischen Messung. Ein Beispiel ist die Spin-Messungen bei verschränkten Quanten, die erst durch die Messung selbst einen festgelegten Spin-Wert annehmen.
Etwas weniger schwer zugänglich ist die Erkenntnis der Systemtheorie, dass die Beobachtung eines Systems durch einen außenstehenden Beobachter schlicht unmöglich ist. Durch die Beobachtung interagiert der Beobachter mit dem System, wodurch sich der Systemzustand ändert.
Wissenschaftlich-psychologisch wurde dieser Effekt bereits vor fast 100 Jahren durch den Hawthorne-Effekt beschrieben. In einer Fabrik sollte der Einfluss der Beleuchtung auf die Produktivität untersucht werden. Kurioserweise stieg die Produktivität unabhängig von den Lichtverhältnissen einfach, weil die Mitarbeiter merkten, dass sie beobachtet werden.
Gerade in Beratungsprojekten, Bewerbungsprozessen, Verkaufsgesprächen oder Steering Meetings sind solche Verzerrungen häufig. In der Personaldiagnostik ist das Phänomen unter dem Begriff „soziale Erwünschtheit“ bekannt. Einige Diagnostik-Instrumente testen den Grad der Messergebnis-Verzerrung durch soziale Erwünschtheit ab. Führungskräfte kompensieren diese Verzerrung häufig einfach dadurch, dass sie besonders kritisch nachfragen oder Sicherheitspuffer abziehen.
Zum Umgang mit solchen Phänomenen in der Rolle als Berater, finde ich das Konzept der Schauseite von Organisationen sehr hilfreich.
Messungen von Menschen und Organisationen sind chronisch ungenau
Gerade in der Personal- und Organisationsdiagnostik wird leider meist ignoriert, dass die meisten Messinstrumente chronisch ungenau und unzuverlässig sind.
Absolviert eine Person zweimal den gleichen Diagnostik-Test werden sich ihre Ergebnisse unterscheiden. Auch Vergleiche zwischen mehreren mehrfach diagnostizierten Personen werden sich ändern. Der Grad der Zuverlässigkeit eines Tests wird mit der Retest-Reliabilität angegeben. Ich muss zugeben, dass mir diese Kennzahl bisher nur im akademischen und nicht im wirtschaftlichen Kontext begegnet ist. Einer der Haupt-Kritikpunkte am beliebten und in Wirtschafts-Kontexten recht häufig verwendeten MBTI Test ist die geringe Retest-Reliabilität.
Auf Organisationsebene gibt es insbesondere bei der Kulturdiagnostik verschiedene Instrumente, die angeblich die Kultur einer Organisation messen können. Neben Spiral Dynamics und Reinventing Organizations die in den letzten Jahren sehr beliebt waren, gibt es unzählige andere Modelle und Messinstrumente um Kultur zu messen.
Was dabei vergessen wird, ist die hohe Variabilität der Kultur und Verhaltensweisen innerhalb eines Unternehmens, bedingt durch die hohe Anzahl unterschiedliche Kontexte und Menschen, die in einem Unternehmen zusammenkommen (siehe Denkfehler 2 in diesem Artikel).
Zusätzlich wird eine klassische Erkenntnis der interkulturellen Psychologie ignoriert: Die Varianz innerhalb einer Gruppe ist meist deutlich größer als die Varianz zwischen Gruppen.
Ein Beispiel: Wenn ich die Körpergröße von jeweils 1000 Männern und Frauen messe kommt dabei vielleicht heraus, dass Frauen im Schnitt 1,65m und Männer 1,80m groß sind. Frauen sind also im Schnitt 0,15m kleiner als Männer. Wenn ich mir anschaue welche Größen-Werte bei Männern vorliegen, reichen diese Werte vielleicht von 1,55m bis 2,20m. Die Spannweite ist 0,65m. Bei Frauen reichen die Messwerte vielleicht von 1,45m bis 2,00m. Die Spannweite ist 0,55m. Beide Werte sind deutlich größer als der Gruppenunterschied von 0,15m
Jetzt pauschal alle Männer als groß und alle Frauen als klein zu bezeichnen wäre aufgrund dieser Messergebnisse sehr ungenau. Bei Organisationskultur passiert aber genau das. Hier wird schnell und pauschal von „Teal“ Organisationen im Gegensatz zu „Orange“ Organisationen gesprochen.
Als grobe Orientierung und zur Anregung einer Entdeckungsreise sind solche Instrumente und Aussagen durchaus hilfreich. Als Berater setze ich solche Instrumente jedoch mit der nötigen Vorsicht und einem umfangreichen Beipackzettel ein.