„Haben“ und „Sein“ beschreibt Erich Fromm als zwei vollständig verschiedene Existenz- und Lebensweisen.
- In der Existenzweise des Habens definiert sich ein Mensch durch das, was er hat: Reichtum, Macht, Glück, Erfolg.
- In der Existenzweise des Seins definiert sich ein Mensch durch Sein und Werden. Lebendigkeit, Gefühle, Präsenz, Impulse.
Erich Fromm argumentiert in seinem Buch Haben oder Sein gesellschaftskritisch. Viele der damals (das Buch erschien 1979) und heute zu beobachtenden Grausamkeiten der Menschenwelt seien ein Resultat der Existenzweise des Habens. Durch immer mehr „Haben“ entstehen Gier, Ausbeutung von Schwächeren, Zerstörung der Umwelt, soziale Ungerechtigkeit.
Zusätzlich entspringen daraus innere Leere und Depression: Alles was du hast, hat irgendwann dich. Egal, wie viel du hast, das schwarze Loch in dir kannst du damit nicht füllen. Von dir bleibt Nichts, wenn du mal nichts hast. Die Existenzweise des Habens führt in eine hedonistische Tretmühle, die nach immer Größerem verlangt, um glücklich sein zu können und die innere Leere nicht spüren zu müssen.
Die Existenzweise des Seins bietet eine Lösung für diese Probleme: Mach dich frei von äußerem Hab und Gut. Werde, wer du bist. Finde Licht und Sinn in dir Selbst. Spüre dich im Einklang mit Natur, anderen Menschen, dem großen Ganzen. Achtsamkeit, Meditation, Yoga und andere Ansätze sind Wegweiser zur Existenzweise des Seins. Wer sich selbst genügt, braucht wenig Besitz und „Haben“. Für solches Leben braucht es weniger Ressourcen. Ein nachhaltiges, enkelgerechtes Leben in Harmonie und Wohlbefinden ist möglich!
So gegenübergestellt, erscheint die Existenzweise des Seins der Existenzweise des Habens überlegen. Stellt man die Frage „Haben oder Sein?“ kann ein vernünftiger, aufgeklärter Mensch, der sich den Gefahren des Klimawandels und den Mechanismen des Kapitalismus bewusst ist, doch nur mit „Sein!“ antworten?! Alles andere wäre unvernünftig?!
Ich gebe mich als unvernünftiger Mensch zu erkennen.
Nein, meine Antwort auf die Frage „Haben oder Sein“ ist nicht „Haben!“. Sie ist auch nicht „Sein!“. Die Frage ist einfach unsinnig und ich weigere mich, sie zu beantworten. Sie fußt auf der irreführenden Annahme, man könne oder müsse sich entscheiden: „Haben oder Sein“! Diese Annahme und die grundlegende dualistisch-ausschließende Weltsicht sind leider weiterverbreiteter, philosophisch und gesellschaftlich kultivierter Schwachsinn. „Haben“ und „Sein“ sind zwei Facetten eines Lebens. Es kann kein „oder“ zwischen beiden geben. Sinnvoller ist die Akzeptanz des „und“ sowie die Suche nach Balance.
Wenn ich in die Welt schaue, mangelt es offensichtlich an „Sein“ und „Haben“ – gleichzeitig! Je nachdem, worauf mein Blick fällt entsteht unnötiges Leid durch den Mangel einer Seite. Manchen Investmentbankern, Popstars und erfolgreichen Unternehmern wünsche ich einen vollen Löffel „Sein“. Hungernden Kindern in Afrika, armen Landarbeitern oder fleißigen Pflegekräften wünsche ich eine große Portion „Haben“.
Ein Begriff, der mir hilft, eine Brücke über den Abgrund zwischen Sein und Haben zu bauen ist Zwiefältigkeit. In Martin Bubers Ich und Du trägt der Begriff der Zwiefältigkeit das gesamte Gedankengebäude. Folgerichtig wird der Begriff mit dem ersten Satz des Buches eingeführt:
„Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung.“
Martin Buber
Die Zwiefältige Haltung des Menschen entspringt den beiden Grundworten, die der Mensch sprechen kann. Die Grundworte sind zwei Wortpaare. Sie beschrieben, wie ein Mensch zu seiner Umwelt in Beziehung tritt: Es sind die Grundworte „Ich-Es“ und „Ich-Du“.
Das Grundwort „Ich-Es“ ist mit der Existenzweise des Habens verwandt, enthält jedoch andere Aspekte. Das Grundwort „Ich-Es“ definiert eine Objekt-Beziehung. Durch die Abgrenzung von Objekten im Außen entsteht ein „Ich“. Die Objekte im Außen werden zum „Es“. Das „Ich“ kann alle „Es“ haben, nutzen, ausbeuten. Ein „Es“ muss kein Gegenstand sein. Auch andere Menschen oder abstrakte Konstrukte können als „Es“ gebraucht werden. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür sind Männer die stolz berichten, wie viele Frauen sie schon „hatten“. In „Ich-Es“ Beziehungen werden Frauen zu eroberbaren, nutzbaren Gegenständen.
Das Grundwort „Ich-Du“ beschreibt eine andere Art der Beziehung, die mit der Existenzweise des Seins verwandt ist. Es beschreibt die lebendige Beziehung zwischen „Ich“ und „Du“. Erleben entsteht erst aus und durch den Kontakt zwischen „Ich“ und „Du“. Aus diesem Kontakt entsteht etwas Neues im Sinne der Emergenz, wodurch auch „Ich“ und „Du“ nicht unverändert bleiben. Besitz und Haben sind als Begriffe nicht sinnvoll anwendbar.
Es gehört zu den Schwierigkeiten und Mysterien, des Grundworts „Ich-Du“, dass es nur schwer mit Worten zu beschreiben ist. Eine „Ich-Du“ Beziehung muss gelebt und immer wieder neu im Kontakt gestaltet werden. Eine Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen wäre in diesem Sinne nicht, was sich festhalten oder definieren könnte. Sie wäre immer genau das, was im Moment zwischen beiden Menschen, zwischen „Ich“ und „Du“ entsteht.
Wichtig ist dabei festzuhalten, dass das „Ich“ des Grundworts „Ich-Du“ ein anderes ist, als das „Ich“ des Grundworts „Ich-Es“. Jedoch ist das „Ich“ des Grundworts „Ich-Es“, die Voraussetzung, dass das „Ich“ des Grundworts „Ich-Du“ entstehen kann. Das klingt reichlich kompliziert, bedeutet aber letztlich nur folgendes: Ein „Ich“ entsteht zuerst durch Abgrenzung von Objekten im Außen („Ich-Es“). Dieses „Ich“ kann im Anschluss entscheiden, ob es seine Umwelt als nützliche Gegenstände („Ich-Es“) oder Beziehungsobjekte auf Augenhöhe („Ich-Du“) erleben möchte. Durch die erste Entscheidung für eine „Ich-Du“ Interaktion entsteht das neue „Ich“ des Grundworts „Ich-Du“.
Es bleibt dem einzelnen Menschen überlassen, einen Weg und persönliche Balance der beiden Grundworte zu finden. Der Begriff der Zwiefältigkeit erinnert daran und drückt aus, dass Menschen beide Grundworte brauchen, um Leben zu können. Martin Buber betont jedoch die Bedeutung des „Ich-Du“ für ein erfülltest und glückliches (auch spirituelles) Leben.
Übertragen auf die beiden Existenzweisen des Habens und des Seins folgt, dass beide Existenzweisen notwendig sind um zu leben. „Haben“ ist eine Voraussetzung für „Sein“. Wer kein Essen, keine Luft, kein Wasser hat, kann nicht sein. Etwas blumiger ausgedrückt: Nur jemand der wirklich satt war, kann asketisch leben. Auf das Beispiel des hungernden Kindes von vorhin übertragen bedeutet das, dass es äußerst zynisch und grausam wäre einem hungernden Kind zu empfehlen, sich auf das „Sein“ konzentrieren, um glücklicher zu werden. Das Kind muss erst mal ausreichend Nahrung und Sicherheit haben! Ein Minimum an „Haben“ ist zum Überleben nötig und erlaubt erst eine Leben mit „Sein“.
Die Kunst und schwierige Aufgabe besteht im Finden des „Haben“-Minimums sowie Balance und Maß zwischen „Haben“ und „Sein“. Ich hinterfrage mich täglich und hadere mit mir: Wie viel muss ich haben, um meiner Familie ein glückliches Leben zu ermöglichen? Reicht die aktuelle Wohnung oder brauchen wir ein Haus mit Garten? Reicht das gebrauchte Fahrrad oder leidet mein Kind, wenn es andere Kinder mit ihren neuen coolen Fahrrädern sieht?
Die gleichen Fragen stellen sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene: Wie viel Wachstum und Wohlstand müssen wir als Gesellschaft „Haben“ um zufrieden „Sein“ zu können? Kann man ein gutes Leben führen, ohne Erfolg zu „Haben“?
Dabei muss ich mich daran zu erinnern, dass ich mir diese Fragen nur stellen kann, weil ich mehr als genug „habe“. Viele Menschen kennen dieses Privileg nicht und „haben“ gerade so viel oder zu wenig um zum Überleben. Demut und Dankbarkeit und Einordnen der eigenen Lebenswirklichkeit sind angebracht.
Die Frage, die ich mir auf meine weitere Lebensreise mitnehme, ist folgende: „Wie viel „Haben“ ist genug?“ Ich hoffe, dass ich und andere durchs selbst-hinterfragen lernen nur so viel zu brauchen, dass für Alle genug „Haben“ zum „Sein“ bleibt.