Das Märchen von Dornröschen kennt jeder. Eine Prinzessin fällt durch einen bösen Zauber in tiefen Schlaf. Sie kann nur durch einen Kuss der wahren Liebe erweckt werden.
Was heraussticht, ist „wahre Liebe“. Ein „Kuss der Liebe“ reicht nicht aus. Es muss „wahre Liebe“ sein. Kinder lernen so, dass es nicht nur Liebe gibt, sondern auch „wahre Liebe“ und „falsche Liebe“. Kraftvoll genug, um böse Zauber zu brechen, ist allein die „wahre Liebe“.
Das ist tragisch, weil „Liebe“ ohne vorangestelltes Adjektiv abgewertet wird. Ist „Liebe“ nicht „wahre Liebe“, dann muss es wohl „falsche Liebe“ sein, also keine Liebe. Durch die Einführung „wahrer Liebe“ bleibt kein Platz mehr für „Liebe“. Im ungünstigen Fall führt das zu Perfektionismus, ständiger Unsicherheit und Lieblosigkeit: „Die Liebe, die ich spüre – ist das die wahre Liebe?“
Ich möchte das Problem „wahrer Liebe“ an einem Beispiel aus meinem Leben verdeutlichen:
- Ich liebe meine beiden Töchter
- Ich liebe meine Freundin
Ich empfinde allen dreien gegenüber nicht komplett identisch. Die Liebe zu meiner Freundin fühlt sich anders an, als die zu meinen Kindern. Welches aber ist „wahre Liebe“?
Sobald ich mir diese Frage stelle, bin ich in einem Dilemma. Entweder muss ich alles als „wahre Liebe“ definieren, wobei der Absolutheitsanspruch des Wortes „wahr“ keinen Raum für den Reichtum meiner Empfindungen lässt. Oder ich bezeichne nur eines von Beiden als „wahre Liebe“. Damit werte ich die andere Beziehung ab.
Der Weg, für den ich mich entscheide, ist, dass ich mir die Frage nach der „wahren Liebe“ nicht stelle. „Wahre Liebe“ existiert nicht, nur „Liebe“. Das Wörtchen „wahr“ ist überflüssig.
Diese Logik lässt sich auf viele Bereiche übertragen. Neben „wahr“ gibt es Worte, die ähnlich verwendet werden. Das sind insbesondere „wirklich“ und „echt“. Man spricht dann von „echten Problemen“ oder sucht das „wirkliche Ich“. Besonders Berater und Coaches, aber auch Hilfesuchende nutzen diese Formulierung häufig. Sie scheinen als Narrativ und Verkaufsargument durchaus wirksam zu sein.
Wie oben beschrieben glaube ich nicht, dass Adjektive wie „wahr“, „wirklich“ oder „echt“ einen Nutzen bieten. Ich sehe eher die Gefahr, dass Schaden und ungünstige Dynamiken entstehen. Etwas Demut und Bodenständigkeit, tun jedem Menschen gut da braucht es keine Steigerungen. Mir reichen „Liebe“ und „Ich“, so wie sie sind.