Der Wanderer im Wald

Es war einmal ein Wanderer. Bepackt mit seinen Sachen bahnte er sich seinen Weg durch den Wald. Er kletterte über Steine oder umgefallene Baumstämme, watete durch Bäche, überquerte helle Lichtungen, schlief in seinem Zelt oder unter freiem Himmel, aß was er fand oder fing. 

Eines Tages traf er auf eine Straße, folgte ihr ein Stück und erreichte eine Raststätte. Er trat ein und wurde gleich von einem eifrigen Geschäftsmann gerufen:

„Hey du, Wanderer! Komm an meinen Tisch. Du siehst wild und zerzaust aus! Hier, iss etwas, ich lade dich ein, du bist ja ganz mager! Wo kommst du denn her?“

Der Wanderer nahm das Angebot dankend an und versuchte die Frage des Geschäftsmanns zu beantworten: „Ich komme aus Altenstadt – dort bin ich vor einiger Zeit losgelaufen, jetzt bin ich zufällig hier angekommen.“

Der Geschäftsmann unterbrach ihn: „Wie, du bist zufällig hier angekommen? Weißt du denn nicht wo du hin willst? Wieso bist du nicht über die Straße von Altenstadt gekommen oder mit dem Bus zur Raststätte gefahren? So wärst du viel schneller hier gewesen.“

Der Wanderer versuchte sich zu erklären: „Ich wusste doch gar nicht, dass ich zur Raststätte will. Ich ging einfach los – hatte ja alles bei mir, was ich brauche. Unterwegs begegnete ich auch Hunger und Kälte. Ich fand aber immer genug zu essen und nachts kroch ich in mein Zelt und kuschelte mich in meine Decke, um nicht zu frieren. Heute morgen erreichte ich zufällig diese Raststätte.“

Der Geschäftsmann verlor die Fassung: „Großer Gott! Hunger, Zufall, Kälte, Unwissenheit! Wie kannst du nur so leben? Überleg mal, was du alles verpasst! Nein, nein, das geht so nicht. Du hast großes Glück mich getroffen zu haben! Hör zu, ich mache dir ein Angebot: Komm mit mir nach Neustadt. Dort besorgen wir dir neue Klamotten und einen Job. Du wirst nicht viel verdienen, aber für eine warme Wohnung und einen gut gefüllten Bauch reicht es allemal. Dann reden wir über deine Zukunft – über alles was du erreichen kannst und wie du dort hinkommst. Kein zielloses Rumstreifen im Wald mehr, kein Hunger, keine Kälte – was sagst du?“

Der Wanderer blickte den Geschäftsmann mit großen Augen an. Er sah seine freundlichen Augen, die roten Backen, den feinen Anzug, die kräftigen Hände, die sauber polierten Schuhe. Sein Blick wanderte zu den eigenen, dreckigen Händen, seinen abgetragenen Klamotten und ausgelatschten Schuhen. Er befühlte seinen zotteligen, verkrusteten Bart und seine hervorstehenden Wangenknochen. Vor seinem inneren Auge erschien die goldene Zukunft, die der Geschäftsmann ihm anbot. 

Der Wanderer blinzelte, das Zukunftsbild verschwand, er kehrte in den Moment zurück. Entschlossen nahm er seinen Rucksack auf, sah den Geschäftsmann unverwandt an und sprach mit sonnig-klarer Stimme zum Abschied: „Ich danke dir für dein großzügiges Angebot. Ich muss es ablehnen. Ich streife gerne ziellos durch den Wald. Ich bin ein Wanderer.“

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