Das „beste Ich“ ist Narzissmus

Ich stoße häufig auf Coaches, die versprechen Menschen zu ihrem „wahren“, „besten“ oder „idealen“ Ich zu führen. Diese Angebote sind brandgefährlich. Sie füttern Narzissmus. Das führt im besten Fall zu einer Stabilisierung der Lage ohne Veränderung und im schlechtesten Fall zur Verstärkung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. 

Was ist eigentlich Narzissmus?

Narziss war ein holder Jüngling, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Er wies die Liebe anderer Menschen zurück und starb äußerst unglücklich. Narzissmus und die narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.8) werden meist mit Egoismus, Selbstverliebtheit, Arroganz und Hybris gleichgesetzt. 

Das ist ungenau und einseitig. Es fehlt die feine, aber wichtige Unterscheidung, dass Narziss nicht in sich selbst, sondern in sein Spiegelbild verliebt war. Zusätzlich wird nicht betrachtet, aus welchem Grund Menschen überhaupt Narzissmus entwickeln.

Narzissten lieben Bilder von sich

Sein Spiegelbild zu lieben, bedeutet ein „Abbild-Ich“ zu lieben. Neben Spiegeln bieten Photoshop und Instagram unbegrenzte Möglichkeiten Bilder von sich selbst zu schaffen. Narzissten definieren „Ich“ und ihren eigenen Wert über ein oder mehrere „Abbild-Ich“. Desto toller das „Abbild-Ich“, desto toller die Reaktionen darauf, desto mehr Follower es hat, desto glücklicher ist der Narzisst.

Durch dieses Verhalten lösen Narzissten ein großes Problem: Narzissten haben keine von Innen kommende Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“. Sie wissen nicht, wer sie sind. Das ist eine tiefgreifende und sehr belastende Persönlichkeitsstörung. Wo ein freies und flexibles „Ich“ sein könnte, finden Narzissten nichts in sich. Das selbst geschaffene „Abbild-Ich“ dient dazu, diese Leere zu verdecken und sie nicht zu spüren. Das „Abbild-Ich“ soll das fehlende „Ich“ ersetzen.

Narzissmus ist dabei nur eine Möglichkeit, die fehlende Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ zu kompensieren. Andere Menschen, definieren „Ich“ über einen höheren Zweck, Organisationen oder geliebte Menschen und Kinder. 

Narzissten leben in unbewusster Angst vor ihrer inneren Leere

Das „Abbild-Ich“ der Narzissten kann das fehlende „Ich“ nicht gänzlich ersetzen. Es kann lediglich die innere Leere verdecken. Je nach Ausprägung der narzisstischen Tendenz wissen Narzissten unterschiedlich viel von ihrer inneren Leere. Manche verstecken die Leere bewusst, andere stecken so tief im Narzissmus, dass sie ihr „Abbild-Ich“ für ihr „Ich“ halten. 

Unbewusst spüren alle Narzissten, dass sie es mit etwas Schrecklichem zu tun bekommen, wenn das „Abbild-Ich“ Risse bekommt.  Daher nutzen sie verschiedene Strategien, um das „Abbild-Ich“ zu stabilisieren und das fehlende „Ich“ nicht zu spüren:

  • Sie vermeiden emotionale Nähe, damit niemand die „Abbild-Ich“-Fassade durchschaut und sie mit der Inneren Leere konfrontiert
  • Sie erzählen wie großartig sie (ihr „Abbild-Ich“) sind und beweisen das durch ihre herausragenden Erfolge wie: mein Job, mein Haus, meine Frau 
  • Sie deuten Erlebnisse und Erfahrungen so um, dass sie zum „Abbild-Ich“ passen, notfalls setzen sie diese Deutung gewaltsam durch
  • Sie suchen sich Anhänger, mit ebenfalls narzisstischen Tendenzen, die am großartigen „Abbild-Ich“ teilhaben dürfen – so entstehen narzisstische Allianzen
  • Sie ignorieren die Meinung von Mitmenschen und sind für Kontaktversuche, die nicht zu ihrem „Abbild-Ich“ passen völlig unerreichbar
  • Sie meiden spontane und unsichere Situationen, bei denen sie noch nicht wissen, wie ihr „Abbild-Ich“ sich verhält

Wie viele dieser Strategien und wie häufig Personen sie nutzen, gibt einen Hinweis auf die Schwere der narzisstischen Störung. Ein kleiner Selbsttest bietet sich an: Wie viele der Strategien entdeckst du in deinem Verhalten? Wenn du dich bei vielen Strategien wiederfindest, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass du keine gute innere Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ hast. 

Ideal-Bilder bestärken Narzissten in ihrem Muster

Wenn ein Narzisst zum Coach oder Therapeuten geht, dann entweder, weil er aufgrund seiner narzisstischen Strategien in Probleme gerät, oder weil sein „Abbild-Ich“ Risse bekommt. Ein typisches Vorgehen vieler Coaches ist es, ein Idealbild zu definieren und dann Maßnahmen abzuleiten, wie man dieses Idealbild erreicht. Für Narzissten ist das super und passt perfekt zu ihrem Muster: 

  1. Durch das mit dem Coach erarbeitete Idealbild erhalten sie ein neues „Abbild-Ich“ das direkt durch die narzisstische Allianz mit dem Coach gestärkt ist
  2. Sie erlernen neue Maßnahmen und Verhaltensweisen um dieses „Abbild-Ich“ zu stabilisieren und somit die Gefahr zu verringern, dass sie auf die innere Leere stoßen

Psychologisch betrachtet, halte ich diese Dynamik für äußerst tragisch. Aus Sicht von Coach und Narzisst ist sie äußerst erfolgreich. Dem Narzissten geht es nach dem Coaching besser (ohne dass sich wirklich etwas verändert hat). Der Coach hat einen zufriedenen Kunden, der ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterempfiehlt und bei der nächsten Krise zurückkommt. Wirtschaftlich betrachtet ist das ein sehr erfolgreicher Ansatz.

Ein kurzer Einschub zu Erfolg von Narzissten: Desto größer die innere Leere und Hilflosigkeit, desto größer ist die Motivation diesen Schmerz zu vermeiden. Diese Motivation kann riesige Energiemengen freisetzen, die in Leistung und Erfolge transformiert werden können. Desto erfolgreicher der Narzisst, desto größer seine Sogwirkung für narzisstische Allianzen und desto größer die Irritation bei all denen, die nicht in einer narzisstischen Allianz mit ihm stecken. Dieser Dreiklang ist wunderbar bei Donald Trump zu beobachten.

Eine echte Alternative wäre, dem Abgrund ins Auge zu blicken

Es gibt eine Alternative zum Aufbau eines neuen „Abbild-Ich“. Diese Alternative ist, sich der Frage „Wer bin ich?“ und damit auch dem schrecklichen inneren Loch zu nähern. Ich schreibe hier bewusst nähern und nicht stellen. Sich einem solchen Thema anzunähern braucht viel Mut und kleine Schritte. Zeit, Geduld, und gute Begleitung sind nötig, um nach „Ich“ zu suchen. 

Sich alleine auf die Suche zu machen ist (leider!) nicht möglich. Keine gute innere Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ zu haben, hängt auch damit zusammen, dass man als Kind und Jugendlicher keine Bezugspersonen hatte, die diese Frage für sich beantwortet hatten. Es gab kein anderes „Ich“ bzw. aus Perspektive des Kindes kein „Du“ mit dem man sich selbst hätte kennenlernen können. Demnach braucht es einen sehr guten Freund, Coach oder Therapeuten, der stabil „Ich“ sein kann und damit für sein Gegenüber ein „Du“ zum Entdecken und Lernen darstellt.

Selbst mit einem guten Begleiter ist die „Ich“-Reise herausfordernd. Es ist ein Irrglaube, ein statisches „Ich“ erreichen zu können, das sich nicht mehr ändert. Genau wie im Körper jeden Tag Millionen Zellen sterben und neu gebildet werden, verändert sich auch das, was „Ich“ ist ständig. Die Stabilität des „Ich“ entsteht durch Änderbarkeit und Flexibilität. Es ist ein wunderbares Paradoxon: Heute bin ich anders als gestern und dennoch bin ich heute genauso „Ich“ wie gestern.  

Ein Kommentar zu “Das „beste Ich“ ist Narzissmus

  1. Endlich einmal eine gescheite Schilderung von Narzissmus. Ich kenne Fachärzte, die der Überzeugung sind, dass Narzissmus nicht heilbar ist. Und ich kenne Beispiele von gescheiterten Heilungsversuchen, die ohnehin nur ein Soft-Narzisst unternimmt. Diejenigen auf der anderen Seite der Skala haben keine Einsicht in die Notwendigkeit einer Therapie.

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